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Die Wirtschaft in der Sinnkrise – Experteninterview mit Prof. Dr. André Reichel

In den letzten Wochen haben wir bereits verschiedenste Facetten der Wirtschaft und des Arbeitens in Zeiten der Pandemie durchleuchtet. Die Highspeed-Digitalisierung, die uns alle zum Umdenken in unserer Art des Arbeitens bewegt, eine schwindelerregende Achterbahnfahrt der Volkswirtschaften, Wirtschaftsbranchen und Märkte sowie Leader und ihre Fähigkeit, in Zeiten der Ungewissheit mutige und wichtige Entscheidungen zu treffen und ihrem Unternehmen und den Mitarbeitern den Rücken zu stärken.

Wir konnten einen Experten gewinnen, sich unseren Fragen zu diesen Themengebieten und Trends zu stellen.

Prof. Dr. André Reichel bewegt sich seit vielen Jahren auf dem Gebiet der Nachhaltigkeitsforschung. Fragen einer Postwachstumsökonomie und nachhaltiger Geschäftsmodelle zählen ebenso zu seinen Forschungsschwerpunkten wie Systemtheorie und organisationaler Wandel.

Seine Vita hält zahlreiche Stationen bereit, unter anderem die Zeppelin Universität und die Karlshochschule sowie eine Gastdozentur an der University of Oxford. Zurzeit lehrt Prof. Reichel an der International School of Management in Stuttgart. Darüber hinaus arbeitet Reichel mit dem Zukunftsinstitut in Frankfurt und Wien zusammen*.

Dr. Maier + Partner:  Zum Einstieg möchten wir gerne eine Gegenüberstellung wagen. Uns interessiert, wie sich die Entwicklungsprognosen in der Wirtschaft durch die Pandemie verändern. Auf der einen Seite gibt es die Situation ohne Pandemie, in der es bestimmte Prognosen gibt, auf der anderen Seite befinden wir uns allerdings in der Phase einer Pandemie, die die Weltwirtschaft gehörig auf den Kopf stellt. Wie haben sich die Prognosen nun also verändert?

Prof. Dr. Reichel: In Sachen Wachstumszahlen gab es im April ein Prognose-Update des IWF, welches deutlich zeigt, dass wir global mit einem stark negativen Wirtschaftswachstum von mehr als 3 % rechnen müssen. Die frühindustrialisierten Länder, also die OECD-Staaten wie Deutschland, sogar mit über 6 % negativem Wachstum. Aber auch Schwellenländer wie China, Indien und Indonesien schrumpfen wohl mit 1 %. Diese waren in der Wirtschaftskrise von 2008 nicht so stark betroffen. Die aktuelle Krise durchdringt die Wirtschaft global und der IWF geht davon auf, dass der Anschluss an den alten Wachstumspfad länger dauern und eventuell gar nicht mehr erreicht wird.

Dr. Maier + Partner: Jetzt ganz drastisch gefragt: Stehen wir in Deutschland vor dem großen Kollaps oder ist die deutsche Wirtschaft stark genug, um einer solchen Krise die Stirn zu bieten?

Prof. Reichel: Da müssen wir nochmal einen Schritt zurückgehen. Anfangs hat man oft gesagt, dass diese Krise keine echte Wirtschaftskrise ist, sondern lediglich eine Gesundheitskrise bzw. ein Schock der durch diesen neuen Corona-Virus verursacht wird. Die Wirtschaft sei ja eigentlich strukturell gesund – nicht wie 2008/2009. Das ist natürlich dann doch nicht ganz so zutreffend. 47 % der deutschen Wirtschaftsleistung werden durch den Export erzeugt. Sehr stark natürlich in den europäischen Binnenmarkt, jedoch auch in die USA und nach China. In unseren europäischen Nachbarländern wie Frankreich – unser Haupt-Handelspartner – Italien oder Spanien ist die Wirtschaft sehr stark in den Keller gerauscht. Diese Volkswirtschaften – und dadurch unsere Absatzmärkte – werden sich hier erstmal nur sehr langsam erholen. In den USA weiß man überhaupt nicht, wie es weiter geht und die Infektionszahlen springen immer weiter nach oben. China erholt sich, doch das reicht vermutlich auch nicht, um die Weltwirtschaft aus der Krise zu holen. Das Problem ist also nicht allein unsere Wirtschaft in Deutschland, sondern dass alle anderen eben auch in der Krise sind. Man kann zum jetzigen Zeitpunkt schlicht nicht sagen, wie lange es dauert, bis alle aus der Krise kommen. Denn erst wenn alle sich erholen, kann es auch bei uns wieder aufwärts gehen.

Dr. Maier + Partner: Man spricht bei der Betrachtung der Krisenverläufe häufig von den verschiedenen Verlaufskurven: Die V-Kurve, die U-Kurve oder letztendlich die L-Kurve. Steuern wir, steuert der deutsche Mittelstand, steuert die deutsche Wirtschaft auf die L-Kurve zu?

Prof. Reichel: Das ist je nach Branche ganz unterschiedlich. Aber ich glaube schon, dass man beispielsweise im Automotive-Sektor durchaus die Befürchtung, dass es ein „L“ wird und dass die Nachfrage nach Produkten, die man anbietet, dauerhaft niedriger sein wird. Andere Branchen haben hingegen natürlich auch davon profitiert und neue Aufmerksamkeit bekommen. Aber letzten Endes denkt keiner mehr an ein „V“. Diesen Aufschwung wird es nicht geben. Es wird vielleicht ein geknicktes „U“ geben und das Wachstum geht nach einiger Zeit wieder nach oben, allerdings langsamer als gedacht. In manchen Branchen auch weitaus weniger stark. Das liegt unter anderem daran, dass die Krise eben ein Katalysator für Entwicklungen ist, die vorher schon da waren. Eine dieser großen Entwicklungen ist die Tendenz zur Deglobalisierung. Wir haben es mit Donald Trumps „America First“, einer sehr muskulösen chinesischen Außenpolitik und dem Brexit zu tun. Es gibt überall auf der Welt die Tendenz, regionale Wirtschaftsräume gegenüber anderen abzuschotten und ich glaube, diese Tendenz wird weiter verstärkt werden. Auch dadurch, dass Unternehmen ihre Lieferketten überdenken und näher an ihre Heimatmärkte bringen. Das hat Auswirkungen auf die Unternehmen, aber natürlich auch auf die Konsumenten.

Dr. Maier + Partner: Vielen Dank für die treffliche Überleitung. Auch wir möchten nämlich an dieser Stelle noch näher auf die Verstärkung von Trends durch die Pandemie eingehen. Sie thematisieren häufig die Digitalisierung. In einem früheren Beitrag haben wir bei Dr. Maier + Partner bereits über die Highspeed-Digitalisierung berichtet, welche durch Corona hervorgerufen wurde. Ist diese Entwicklung nun nur so etwas wie ein „Schock-Trend“ oder kann dieser verstärkte Drang zur Globalisierung noch weiter anhalten?

Prof. Reichel: Auch hier muss man schauen: Welche Unternehmen sind wie betroffen und wie haben sie darauf reagiert. In vielen Unternehmen – gerade im Mittelstand – laufen ja bereits Initiativen, in welchen man sich die Frage stellt: „Wie können wir digitale Hilfsmittel besser einbinden?“ Der Trend der Agilität war auch schon vor der Krise präsent. Sprich: Dass wir autonomer arbeiten können und die Frage, wo wir arbeiten können verlor auch schon an Bedeutung. Die Krise hat all dies jetzt beschleunigt. Insofern glaube ich, dass überall dort, wo man sich sowieso mit diesen Themen beschäftigt, die Krise einen Schub hervorgerufen hat und man zwei bis drei Jahre in die Zukunft und in eine neue Realität gesprungen ist, die man sonst zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht erreicht hätte. Aber selbst bei Unternehmen, die diese Gedanken in der Vergangenheit nicht so vorantrieben, haben sich Dinge geändert und da wird sich auch nicht mehr alles zurückdrehen lassen. Ich merke das auch im persönlichen Umfeld. Homeoffice ist manchmal anstrengend. Gerade, wenn Kindertagesstätten geschlossen sind ist es für Menschen mit Kindern natürlich unglaublich schwierig. Aber wenn wir davon ausgehen, dass sich die Lage in dieser Hinsicht wieder normalisiert, kann es doch viel angenehmer sein, als jeden Tag zur Arbeit zu pendeln oder so oft auf Dienstreisen zu müssen. Ich glaube, man wird sich nach der Krise, die ja noch eine Weile andauern wird, sehr genau anschauen, welche Veränderungen man behalten will. Das hat dann wiederum nicht nur Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation, sondern wirft auch die Frage auf: „Wie führen wir eigentlich und wie ist die neue Unternehmenskultur?“

Dr. Maier + Partner: Für die nächste Frage haben wir ein weiteres, häufig erwähntes, Schlagwort in Sachen Trends vorbereitet: Nachhaltigkeit. Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in der Wirtschaft der Zukunft nach Corona. Wird Nachhaltigkeit an Bedeutung gewinnen oder wird dieser Megatrend irgendwann abgeschwächt? Ist Wirtschaft ohne stark ausgeprägten Nachhaltigkeitsgedanken überhaupt möglich und wie sieht das Nachhaltigkeitsmanagement der Zukunft aus?

Prof. Reichel: Nachhaltigkeit ist ein Megatrend, der nicht mehr verschwindet, da die großen Nicht-Nachhaltigkeiten eben auch nicht mehr verschwinden. Die größte ist sicher der menschengemachte Klimawandel. Gegenüber den Effekten des Klimawandels ist die Corona-Krise noch relativ harmlos. Das bedeutet, es wird da noch eine ganz andere Welle in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf uns zukommen, der man sich insgesamt stellen muss. Insofern ist das Nachhaltigkeits-Thema für alle nur noch klarer geworden, da das Coronavirus, seine Verbreitung und die Art, wie wir darauf reagiert haben, durchaus auch als eine systemische Nicht-Nachhaltigkeit betrachtet werden können. Es hat ja einen Grund, weshalb dieses Virus überhaupt vom Wildtier auf den Menschen überspringen konnte. Chinesische Kleinbauern wurden durch wachstums und effizienzorientierten Industrialisierungsprozessen der chinesischen Landwirtschaft von Ihren Äckern vertrieben, mussten sich neue Erwerbsquellen suchen und begannen, Wildtiere zu züchten – und das in großer Nähe zu großen urbanen Zentren, also den Absatzmärkten dieser Wildtiere. Wir müssen uns daher die tiefergehende Frage stellen: Hat unsere Art des Wirtschaftens diese Krise mitproduziert und was müssen wir tun um das zu ändern? Nachhaltigkeit wird insofern viel zentraler und Unternehmen müssen sie integrieren, da ihre Anspruchsgruppen, Zulieferer und Kunden das verlangen und auch weil es immer mehr staatliche Vorgaben geben wird. Und letztendlich soll es Unternehmer und Unternehmerinnen geben, die es moralisch nicht verantworten können, nicht nachhaltig zu wirtschaften. Es wird also einen Antrieb geben, noch mehr in diese Richtung zu gehen.

Dr. Maier + Partner: Wir haben nun verschiedene Trends beleuchtet und die Entwicklungen bereits grob abgesteckt. Kommen wir nun zu den Menschen, die diese Entwicklungen verantworten. Wachstum und Wandel fordern starke Persönlichkeiten und Leader. Wer ist der Post-Corona-Leader? Was bringt er mit und wo liegen seine Stärken?

Prof. Reichel: Wenn wir an diese Frage ganz akademisch herangehen, haben wir es natürlich mit einer Transformationsaufgabe zu tun. Es braucht Führungskräfte, die den Ernst der Lage erkennen und gleichzeitig sich selbst und andere inspirieren und motivieren können, Dinge wirklich radikal zu ändern. Es braucht Führungskräfte, die sich trauen, auch fundamentale Fragen zu stellen: Ist es überhaupt noch sinnvoll, was wir hier machen? Wozu braucht es uns gerade noch und können wir uns selbst auf diese Fragen Antworten geben, in die wir selbst noch Vertrauen haben? Aber man braucht gar nicht nur auf die leuchtenden Figuren an der Spitze zu blicken. Stichwort „Shared Leadership“. Ist es möglich, Führung zu teilen? Alle Mitarbeiter sind mit ihren Ideen und Sorgen wichtige Quellen für die Führung und auch für das Bewusstsein für Dinge, die man anders machen kann. Man muss sich fragen: „Wie schaffen wir es gemeinsam, Führung so zu gestalten, dass wir alle mitnehmen können?“ Es wird sicher Leute geben, die sagen, dass jemand anderes entscheiden soll und sich mit der Entscheidung zufrieden geben, aber wir müssen doch versuchen, möglichst viele Menschen in eine neue Führungsform einzubinden. Das kann ja auch sehr spannend sein. Vielleicht kann man so Leute motivieren, Dinge zu ändern und umsetzen. Diese Entwicklung strahlt natürlich auch ins Umfeld des Unternehmens aus.

Dr. Maier + Partner: Zum Abschluss kommen wir noch zu einer Frage bezüglich Ihrer ganz persönlichen Einschätzung: Werden wir mit diesen Entwicklungen in eine positivere und angenehmere Zukunft blicken können oder werden sich zusätzliche Abgründe auftun?

Prof. Reichel: Manchmal sagt man, dass es immer zuerst schlimmer wird, bevor es besser wird. Ich bin methodischer Optimist, wie der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr einst sagte. Methodisch optimistisch deshalb, weil ich aus einer Position des Pessimismus nicht kreativ sein kann. Ich muss mir vorstellen können, dass es besser wird und wir das schaffen. Aber ich sehe auch, dass alles kippen kann. Das Ende der Welt, wie wir sie bisher kannten, das Ende der Aufklärung, das Ende von Demokratie und Aufklärung, Freiheit und Offenheit – auch all das können wir erleben. Das gab es schon einmal vor über 80 Jahren. Wir hatten solche Zeiten schon und die Zeiten können immer wieder so schlimm werden. Das heißt also, dass es nicht immer besser werden muss und dass wir uns extrem anstrengen müssen, dass es eben nicht so kommt. Wir sind jetzt gerade an Kipppunkten angelangt. Es kann in die eine und in die andere Richtung gehen und wir müssen jetzt mit aller Kraft dafür sorgen, dass es in die nachhaltige Richtung geht, in der eine lebenswerte Umwelt und eine lebenswerte Gesellschaft für alle Menschen existieren.

Dr. Maier + Partner: Ein schönes Schlusswort, Prof. Reichel. Haben Sie vielen Dank für dieses höchst interessante Gespräch.

*Quelle für die Informationen zu Prof. Dr. André Reichel:https://www.andrereichel.de/about/

** Aus Gründen der Lesbarkeit wird im oben stehenden Text ausschließlich die maskuline Form für personenbezogene Substantive und die Ansprache von Personen gewählt. Nichtsdestoweniger sind ausdrücklich Angehörige aller Geschlechter angesprochen. Die Form der redaktionellen Ansprache beinhaltet keinerlei Wertung.    

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